Die Werte des Westens

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Donnerstag, 9. September 2021

Es ist für uns Einwohner des immer noch relativ ruhigen Mitteleuropas wohlfeil, sich über die Niederlage der Anglo-Amerikaner – nach Syrien und Libyen nun auch in Afghanistan – zu freuen. Denn wir ahnen wenig von dem Leid der Menschen in Mittelnahost und Mittelasien, welches mit dem anglo-amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ seit den Anschlägen auf des World-Trade-Center von New York am 11. September 2001 über sie gebracht wurde.

Die dritte Generation seit dem Ende des 2. Weltkrieges – richtiger des 2. Dreißigjährigen Krieges in Europa – weiß weder, wie die Britischen Eliten den 1. Weltkrieg einfädelten, noch, warum die US-Amerikaner und Sowjets ihn gewannen. Und genauso wenige von uns Heutigen kennen die Geschichte Afghanistans vor dem „Eingreifen“ der „westlichen Wertegemeinschaft“ in Form der ISAF im Jahr 2001.

Bei Wikipedia lesen wir: Nach dem sowjetischen Abzug im Februar 1989 kam es zum innerafghanischen Bürgerkrieg, in dem die zunächst die von den USA unterstützten Taliban bis September 1996 die Kontrolle über die wichtigsten Regionen und Städte des Landes übernahmen. Im Oktober 2001 wurden sie durch eine von den USA geführte NATO-Intervention zugunsten der verbliebenen bewaffneten Opposition gestürzt. Die Führungsebene der Taliban konnte sich durch Rückzug nach Pakistan retten. Sie führte in der Folge Angriffe gegen die afghanische Regierung an und konnte nach dem Abzug der NATO-Truppen im August 2021 selbst wieder die Macht übernehmen.“

So kann man es auch darstellen! Keine Erklärung, wieso die USA plötzlich die Seite wechselten. Kein Wort davon, dass die islamische Atommacht Pakistan die Taliban massiv unterstützte. Kein Hinweis, wieso die USA und ihre NATO-Verbündeten glaubten, dort eine ihnen und ihren wirtschafts- und globalstrategischen Interessen genehme Regierung etablieren zu können. Nur einige zaghafte Nebenbemerkungen, dass die Stellung der USA in Syrien und im Irak und gegenüber dem Iran in dieser Zeit ebenfalls immer prekärer wurde, sind zu finden. Oder war es Rache für 9/11, dessen 20. Jahrestag wir gerade begehen?

Wie immer: Alles hängt mit allem zusammen. Egal ob „der Westen“ nun seine Lebensart in den islamischen Gürtel exportieren wollte oder geopolitische Ressourceninteressen im Vordergrund standen: Der Export der „westlichen Werte“ – sofern damit die uns lieb gewordene Lebensart gemeint war – in eine archaisch-religiöse, in Stammes- und Clanfehden verwickelte Welt, wird niemals funktionieren. Das hatte uns Peter Scholl-Latour in seiner unnachahmlichen Weise bereits in den 2010er Jahren deutlich gemacht.

Erinnern wir uns: Im Rahmen der ISAF nahmen an diesem 20jährigen Krieg anfangs 43 Nationen mit rund 71.000 Soldaten teil, davon rund 28.900 aus den USA. Die Europäische Union stellte ca. 30.800 Soldaten, davon etwa 8.300 aus Großbritannien, 3380 aus Deutschland, 3160 aus Frankreich, 2800 aus Italien und 2000 aus Polen. 2010 wurden die Kontingente nochmals aufgestockt. Im Januar 2012 waren bereits 50 Länder mit rd. 130.000 Soldaten an der ISAF-Mission beteiligt, davon 90.000 Soldaten aus den Vereinigten Staaten. Und diese geballte Phalanx des Westens übergab am 30. August 2021 ihre Macht kampflos den Taliban unter Hinterlassung erheblicher „westlicher Werte“, z.B.:

– 1 Million Handfeuerwaffen,

– mehrere Milliarden Schuss Munition aller Kaliber,

– 100.000 Geländewagen Toyota „Hilux“ und „Ford Ranger“,

– 600 Schützenpanzer M-1117 von Textron,

– 600 diverse Artilleriegeschütze,

– 8500 Militärgeländewagen verschiedener Fabrikate,

– etwa 1000 Kampf- und Schützenpanzer sowjetische Bauart,

Und dazu den Grundstock für eine afghanische Luftwaffe aus 207 Teilen, darunter

– 16 Kampfhubschrauber UH-60 Blackhawk von Sikorsky,

– 19 A-29 Super-Tucano von Embraer,

– 68 Mehrzweckhubschrauber MD-530;

– ca. 100 Stück sowjetische MI-17 und MI-14 Hubschrauber,

– eine unbekannte Anzahl von Scaneagle-Drohen von Boeing und nicht zuletzt:

– 4 Hercules-Transporter C-130*

Insgesamt haben die politischen Anführer der westlichen Werteschaffenden ca. 2,5 Billionen Dollar für den Versuch der Implementierung ihres „Wertesystems“ allein in Afghanistan verschleudert. Für den mittleren Osten wird es ähnliche Zahlen geben. Verdient daran hat vor allem der Militärisch-Industrielle Komplex.

Die Bilanz an Menschenleben sieht nach vorläufigen Berechnungen des Uppsala Conflict Data Programs wie folgt aus: Etwa die Hälfte aller Getöteten in Afghanistan – 120.000 – waren laut dieser Datenbank Kämpfer der Taliban. Auch die afghanischen Sicherheitskräfte bezahlten einen hohen Blutzoll: Schätzungsweise starben seit 2001 über 67.000 afghanische Soldaten und Polizisten in Kampfhandlungen. Insgesamt kann von einer Mindestzahl an Getöteten von 250.000 ausgegangen werden. Die „Kollateralschäden“ an ungezählten Opfern gehen wahrscheinlich in die Millionen.

Dennoch – während dieses Krieges hat sich die Bevölkerungszahl der Afghanen von ca. 10 Millionen auf ca. 35 Millionen erhöht!

* Quelle: RT, Rainer Rupp